Marie Lüscher war eine Pionierin der Chirurgie und Mitte des 20. Jahrhundert die einzige Chefchirurgin der Schweiz. Sie wuchs im Neuen Wettsteinhaus in Riehen auf.
Tochter des Jean Jacques Lüscher (1884–1955; Kunstmaler) und der Adèle, geborene Simonius (1886–1960). Zwei Brüder. Ledig.
Marie Lüscher kam am 18. November 1912 in Basel zur Welt. Die Eltern stammten aus dem Basler Grossbürgertum. Ein Urgrossvater väterlicherseits war der Arzt und Besitzer des Alten Wenken Martin Burckhardt-His. Marie hatte zwei jüngere Brüder, den Erfinder Hans Jakob Lüscher (1914–2017) und Martin Lüscher (1917–1979), Professor für Zoologie und Mitentdecker der Pheromone (Botenstoffe).
Marie Lüschers Grossvater väterlicherseits, der Bankier Rudolf Lüscher, mietete ab 1890 das Neue Wettsteinhaus in Riehen als Sommerhaus für seine Familie und erwarb es einige Jahre später. Im März 1918 verkaufte er das Haus an seinen Sohn Jean Jacques und die Schwiegertochter Adèle Lüscher-Simonius als Miteigentümerin. Weil Marie Lüschers Vater in dieser Zeit an Tuberkulose erkrankte und Erholung brauchte, zog die Familie 1920 auf die Halbinsel Giens nach Südfrankreich, kehrte zwischendurch aber immer wieder zurück. Marie Lüscher und ihre Brüder verbrachten sechs ungezwungene Jugendjahre zwischen Riehen und Südfrankreich. Ab 1926 wohnte die Familie Lüscher-Simonius wieder in Riehen und Marie Lüscher besuchte die Höhere Töchterschule in Basel. 1932 machte sie die Matura.
Die Familie pflegte die Hausmusik; Marie Lüscher spielte ausgezeichnet Cello. Im gastfreundlichen Wettsteinhaus gingen berühmte Künstler ein und aus. Man veranstaltete Soireen, an denen etwa der Geiger Adolf Busch und der Pianist Rudolf Serkin teilnahmen. Sie waren Freunde von Lüschers, ebenso wie die Familien Oeri und Stoecklin. Die Tochter von Albert Oeri, Regula Oeri, war Marie Lüschers Schulfreundin, und die Tochter des Malers Niklaus Stoecklin, Noëmi Stoecklin, heiratete Marie Lüschers jüngsten Bruder Martin.
Nach der Matura studierte Marie Lüscher Medizin in Lausanne, Basel und Edinburgh. Sie war eine Hochbegabte mit Bestnoten. Nach dem Staatsexamen 1938 in Basel promovierte sie. Sie wollte Chirurgin werden, damals eine fast ausschliessliche Männerdomäne. Der Chefchirurg am Bürgerspital (heute: Universitätsspital) Basel stellte sie im Sommer 1939 als Assistenzärztin ein, weil absehbar war, dass die Männer angesichts des bevorstehenden Zweiten Weltkriegs bald einrücken müssen. In den folgenden zwei Jahren arbeitete Marie Lüscher bis an den Rand ihrer Kräfte. Sie zeigte Talent, aber man gab ihr zu verstehen, dass sie aufgrund ihres Geschlechts keine Karriere machen könne. 1941 wechselte sie für ein Jahr an die Augenklinik Basel und ging 1943 an die Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich – umgangssprachlich Pflegi genannt –, um sich in Gynäkologie weiterzubilden. Anschliessend wollte sie eine Praxis eröffnen. Den Traum von einer akademischen Karriere hatte sie längst begraben. An der Pflegi erkannte die dortige Chefchirurgin Martha Friedl-Meyer Marie Lüschers Fähigkeiten und stellte ihr die Nachfolge in Aussicht.
1946 wurde Marie Lüscher zur Oberärztin für Chirurgie an der Pflegi befördert. Sie setzte in den folgenden Jahren ihre Ausbildung fort und war an den Universitätskliniken in Zürich und Heidelberg tätig. 1948 erhielt sie als zweite Frau in der Schweiz das FMH-Diplom für Chirurgie. 1952 verbrachte sie einen Forschungsaufenthalt in den USA. 1953 wurde sie an der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich als Nachfolgerin von Martha Friedl-Meyer die damals einzige Chefchirurgin der Schweiz. Im Rahmen eines Turnus leitete sie zudem 1965/66 für zwei Jahre das Spital. 1975 wurde sie pensioniert. 1987 erkrankte sie an Alzheimer und starb vier Jahre später in Zürich.
Marie Lüscher pflegte verschiedene Frauenbeziehungen. 1955 lernte sie an der Pflegi die Ärztin Ruth Gattiker kennen. Diese wechselte aufgrund von Lüschers Ratschlag von der Chirurgie zur Anästhesie und wurde 1975 eine der ersten Professorinnen für Medizin an der Universität Zürich. Die Freundinnen waren 36 Jahre lang bis zu Lüschers Tod verbunden. Sie teilten die Leidenschaft für klassische Musik, griechische Kunst, Mythologie und Philosophie. Sie hatten gemeinsame Ferienhäuser im Tessin und in Davos. Die beiden Pionierinnen ruhen gemeinsam auf dem Waldfriedhof Davos.
Autorin / Autor: Denise Schmid | Zuletzt aktualisiert am 16.7.2023
Zur Prostigmintherapie der Myasthenia gravis (nebst Bemerkungen zur Theorie der Physostigmin- bzw. Prostigminwirkung). Sonderdruck aus: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. Band XLVI. Zürich 1940.
Penicillin-Therapie der Ileitis terminalis. Sonderdruck aus: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 79. Jg. 1949, Nr. 5. S. 97–103.
Über die parasternale Zwerchfellhernie. Sonderdruck aus: Langenbecks Archiv und Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 269, 1951. S. 183–199.
Die chirurgische Abteilung der Pflegerinnenschule in Zürich. In: Zentralblatt des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins. 43. Jg., Nr. 8. Bern, 20.8.1955. S. 177–184.
Reticulosarkom des Humerus mit Spontanfraktur bei chronischer myeloischer Leukämie. Sonderdruck aus: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1960, Nr. 90. S. 983.
mit Friedl-Meyer, Martha: Lehrbuch der Chirurgie für das Pflegepersonal (1. Auf. 1943 von Martha Friedl-Meyer). Neubearbeitung der 4. bis 8. Aufl., 1961–1976.
AGoF 110: Archiv Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich
- Ärztinnen: Marie Lüscher und Martha Friedl-Meyer
- SPZ Jahresberichte 1897–1974
- Krankenpflegekommission Protokolle 1938–1976
- Leitender Ausschuss Protokolle 1944–1973
- Korrespondenz 1896–1991
- Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Krankenhaus in Zürich 1901–1951. Zürich 1951.
- Fotos, Ordner 1–5
Schmid, Denise: Ruth Gattiker. Pionierin der Herzanästhesie. Zürich 2016.
Schmid, Denise: Fräulein Doktor. Das Leben der Chirurgin Marie Lüscher. Zürich 2022.
Schmid, Denise: Ein Spital voller Patienten und die Ärzte alle im Aktivdienst – wie Marie Lüscher zur Chefchirurgin aufstieg. In: Neue Zürcher Zeitung. 4. Januar 2023.